Greiner-Zyklus II
Die Inhalte im grauen Kasten wurden von Ketzer erstellt. Es handelt sich um Fanwork und nicht um offizielle Spielinhalte. |
Kapitel 2 – Diagnose
Greiner hatte die Stadt aus Wellblechbauten, Zelten und neu entstandenen Häusern, die das Spital umgaben, bereits seit einigen Stunden hinter sich gelassen. Er hasste diesen Ort so sehr. Wie ein kränklich schimmernder Borreliose-Ring umgab diese improvisierte Stadt den eigentlichen Zeckenbiss. Das Spital war einst ein Hort der Heilung, des Wissens und des Krieges gegen die Absonderlichen und die Fäulnis, die sie brachten, gewesen. Man hatte starke Männer und Frauen zu noch stärkeren Kriegern, Ärzten und Pflegern ausgebildet. Man hatte die Preservisten hinaus in die kranke Welt geschickt um die Symptome dort zu behandeln, wo sie entstanden. In den Burn-verseuchten Kaschemmen der Apokalyptiker genauso wie in den Sporenfeldern selbst. Das Schwarz-Weiß der Neoprenanzüge war wie ein Banner gewesen. Allein der Anblick eines Spitaliers in vollem Ornat hatte genügt, respektvolles Schweigen, Freude über ärztliche Versorgung oder panische Fluchtreflexe zu verursachen. Egal ob Richter, Wiedertäufer…ja selbst die verschrobenen Chronisten schätzten den Eifer, die Ideale und den Nutzen, den die Spitalier brachten. Nach so langer Quarantäne war man ausgezogen um die Welt zu heilen, um jeden Preis! Das waren die Glaubenssätze, mit denen in den Vorlesungen allenthalben um sich geworfen worden war. Heilung um jeden Preis, das heroische Stemmen gegen die Fäulnis. Er selbst hatte sich doch einspannen lassen in diese Propaganda-Maschinerie, hatte fleißig mitgewirkt. Voller Stolz hatte er in die staunenden Gesichter junger Anwärter geblickt, wie sie an seinen Lippen hingen und aus seinem Mund das Evangelium zur Heilung der Menschheit empfingen. Preservist Hagen Greiner, der Neue, Eisenheiler. Man hatte ihm viele Spitznamen gegeben und er hatte jeden wie einen Mantel getragen, stolz und sich nicht zu schade, alle sehen zu lassen, was er da trug. Und dann hatte man ihn auf Vashax angesetzt… Ein schreckhaftes Zucken des Pferdes, das man ihm im Spital zur Verfügung gestellt hatte, ließ Greiner aus einer Art gedankenverlorenen Halbschlaf hochschrecken. Er schnaubte verärgert und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Die Müdigkeit wurde langsam zum Problem und forderte ihren Tribut. Das ließ ihn unaufmerksam werden…ein Lapsus, den sich ein Preservist für gewöhnlich nur einmal leisten konnte. Greiner hieß sein Pferd anhalten, tätschelte ihm den Hals und stieg mit schmerzenden Knochen ab. Während er sich streckte ließ er seinen Blick gemächlich und müde über die Landschaft schweifen. Die Bauern hatten ganze Arbeit geleistet. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich blass-golden blühende Weizenfelder. Jeder andere hätte diese Landschaft als schön oder friedlich bezeichnet, für Greiner hingegen war selbst hier die Macht und der Einfluss des Spitals omnipräsent, machten sich die Hygieniker doch mit dem Zertifizieren von Fäulnis-freiem Saatgut ordentlich die Taschen voll. Sein Blick fiel auf einen knorrig verwachsenen alten Baum am Wegesrand, dessen Krone, ständig dem rostigen Staub ausgesetzt, eine seltsam ungesunde Farbe angenommen hatte. Greiner führte sein Pferd in die Nähe des Baumes und ließ es dort am Wegesrand grasen, während er selbst sich ächzend im Schatten niederließ. Seinen schweren Gürtel, an dem auch sein Schwert hing, legte er neben sich ins Gras, seinen Spreizer lehnte er zu seiner Linken an den alten Stamm. Der Spitalier war gerade dabei, seine Feldflasche zu öffnen, als er hinter sich aus dem Weizenfeld das Rascheln von Kleidung vernahm. Greiner mochte vielleicht ein wenig in die Jahre gekommen sein, der Verschleiß machte sich inzwischen allenthalben bemerkbar, seine Sinne jedoch funktionierten noch einwandfrei. Nur diesem ausgeprägten Gefahreninstinkt war es immerhin zu verdanken, dass Greiner vermutlich zu den ältesten noch aktiven Preservisten zählte. Noch bevor er sich umdrehte um nachzusehen hatte er ermittelt, dass es sich bei der Person im Feld um ein Kind handeln musste, das noch dazu alleine war. So nah am Spital war zudem mit einem Absonderlichen nicht zu rechnen. Greiner verzichtete also darauf, sein Schwert zu ziehen oder anderweitige Vorbereitungen für einen Kampf zu treffen. Aus dem Gewirr an Weizenhalmen und Ähren trat alsdann besagtes Kind hinaus, ein junges Mädchen, nicht älter als sieben oder acht Jahre. Trotz ihres jungen Alters trug auch sie bereits die Spuren eines entbehrungs- und arbeitsreichen Lebens. Ihre Hände waren von Schwielen bedeckt und dreckig, ihre Kleidung war praktisch und für die Arbeit auf dem Feld ausgelegt. Kniebundhose, Lederstiefel, ein zu großes Hemd aus groben Leinen. Ihre braunen Haare hingen ihr zerzaust und filzig ins Gesicht, während von dem ursprünglich einmal geflochtenen Zopf hingegen nicht mehr viel übrig war. „Ein Bauernmädchen, vorgealtert, geschunden und wahrscheinlich so dumm wie der Acker, den sie bestellt“ dachte Greiner bei sich, während er dem elenden Geschöpf entgegen blickte. Das Mädchen blieb etwa fünf Meter vor dem Preservisten stehen und musterte ihn interessiert. Angst schien sie dabei keine zu verspüren, was Greiner jedoch nicht wunderte, waren sie hier doch noch im unmittelbaren Einflussgebiet des Spitals und den Anblick der Schwarz-Weiß Gewandeten auf ihren schwarzen Pferden gewohnt. „Darf ich mich setzen?“ Das Mädchen hatte mit klarer und fester Stimme gesprochen. Das wiederum wunderte Greiner. Nur weil die Leute hier nicht sofort das Weite suchten wenn sie einen Preservisten sahen hieß das noch lange nicht, dass man sie einfach so dreist ansprach. Verärgert zuckte Greiner innerlich zusammen…da war er wieder. Dieser Standesdünkel, den er einfach nicht ablegen konnte. Spitalier…Preservist…Held. Das alles hatte einmal Sinn ergeben, waren doch die eigene Überhöhung und die Angst im Gegenüber genauso mächtige Waffen wie das Schwert. Die Spitalier hatten sich mit einem Nimbus aus elitärer, totalitärer und wehrhafter Außenwirkung unangreifbar gemacht. Ähnlich wie die Chronisten wussten die Spitalier ihren Ruf zu nutzen, um ihr Werk zu tun. Angst war eine Waffe, die eine größere Reichweite hatte als jede helvetische Flinte. Das hatte Greiner begriffen und es über die Jahre zur Kunstform erhoben. Wie oft schon hatte man ihm einen Absonderlichen oder einen Burn-Lieferanten ausgeliefert, ohne dass auch nur ein Schwertstreich oder ein Schuss vonnöten gewesen waren? Sie kannten seinen Ruf, sie wussten, dass er sie alle in die Hölle hinabreißen würde, nur um an sein Ziel zu gelangen. Das war Preservist Greiner, ein heilkundiger Teufel. Und es war ihm recht so. Doch Furcht war das Eine, Arroganz etwas ganz anderes. Furcht ließ sich im Feld als Waffe verwenden, die Arroganz jedoch machte diese Waffe wieder stumpf. Die Arroganz machte die Dinge selbstverständlich. Und eben jene Selbstverständlichkeit brachte einen um. Natürlich hatte dieses Mädchen das Recht, ihn anzusprechen! Sie war jung und scherte sich nicht um ungeschriebene Regeln. Sie durchschaute diesen Nebel aus Unnahbarkeit, der alle Spitalier ständig umgab und tat, was sie eben tat. Und das war, ihn anzusprechen. „Natürlich, setz dich. Ich bin Hagen. Hast du auch einen Namen?“ Greiner grinste schief und fühlte sich von dieser jungen Seele ertappt. „Angela“ sagte das Mädchen knapp und ließ sich ungeniert neben dem alten Spitalier ins Gras fallen. Sie richtete sich in eine sitzende Position auf und blickte Greiner an. „Kommst du aus dem Spital?“ fragte das Mädchen. „Ja, ich war dort kurz zu Besuch und bin jetzt wieder auf dem Weg.“ Entgegen seiner Gewohnheit genoss Greiner dieses Gespräch bereits. Dieses Mädchen war der erste Mensch seit Tagen, der ihm unvoreingenommen begegnete und offensichtlich kein Ziel verfolgte. „Hast du einen Auftrag?“ Angela begann, rötliche Grashalme auszurupfen und die trudelnd dem stetigen Wind zu überantworten. Der Spitalier beobachtete das Mädchen bei seiner Tätigkeit und beneidete es um die Fähigkeit, gedankenverloren einigen Grashalmen hinterher zu blicken und gleichzeitig ein Gespräch zu führen. Diese geistige Leichtigkeit war ihm selbst schon vor langer Zeit abhanden gekommen. „Ja, ich habe einen Auftrag.“ „Sie hätten dich wenigstens noch ein paar Tage ausruhen lassen können. Du siehst sehr müde aus. Bist du müde?“ Angela hatte die letzten Grashalme fortgeworfen und blickte Greiner nun direkt an. „Ja, ich bin sehr müde. Aber dort wollte ich nicht bleiben.“ „Warum nicht? Sind die Betten dort so unbequem?“ Diese kindliche Logik ließ Greiner schmunzeln, eingedenk der Tatsache dass das Mädchen durchaus recht hatte. Das Spital erachtete Bequemlichkeit immer noch als Schwäche und als Vorbote der Faulheit. „Ja, die Betten sind unbequem und es gibt dort zu viele Leute.“ Greiner rückte seinen Schwertgürtel zaghaft ein wenig weiter zur Seite, um das Mädchen durch die Nähe der Waffe nicht zu beunruhigen. Angela quittierte diese Bewegung mit einem kurzen, desinteressierten Blick. „Aber die Betten sind doch sicher nicht so unbequem wie dein Pferdesattel, oder? Und ich dachte, ihr Spitalier seid gerne unter Menschen. Ist das nicht eure Aufgabe?“ Greiner kratzte sich unruhig das Kinn. Wie sollte er denn jetzt einem so jungen Mädchen erklären, was einen Preservisten dazu brachte, Menschen nicht allzu sehr zu mögen? „Weißt du…äh…ich mache das hier schon sehr lange. Ich habe sehr viele Menschen getroffen. Die meisten davon waren krank. Und viele davon sind gestorben. Verstehst du, was ich meine, Angela?“ Das Mädchen schien kurz über das Gesagte nachzudenken und nickte entschlossen. „Ja klar! Man kann eben nicht alle retten. Aber das hast du doch vorher gewusst, oder? Du bist doch zur Schule ins Spital gegangen?“ Mit einer so offensiven Antwort hatte Greiner nicht gerechnet. „Natürlich habe ich studiert. Viele Jahre lang. Und ja, ich habe auch vorher gewusst, dass meine Arbeit Opfer fordern würde. Aber es ist etwas anderes, etwas zu erleben oder etwas nur zu wissen.“ Aus irgend einem Grund bereitete es dem Preservisten eine Art von Genugtuung , dieses junge unschuldige Mädchen an seinen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Er empfand dies als Prävention, so als würde er das Mädchen mit einer Impfung vor drohenden Krankheiten schützen. Dabei war die Neugier des Mädchen wie ihr Immunsystem, das sich auf alles stürzte, das in ihren Organismus eindrang und es entweder verarbeitete oder abwehrte. Greiner schoss das nicht existente Wort Kognitive Leukozytose durch den Kopf und er musste grinsen. „…st du recht haben.“ Greiner war mit seiner Aufmerksamkeit erst mitten in Angelas Satz zurückgekehrt und musste sich konzentrieren, um geistig aufzuschließen. Angela blickte ihn kurz prüfend an. „Hast du denn jemals drüber nachgedacht, etwas anderes zu machen?“ „Was denn zum Beispiel?“ „Ich weiß nicht…neue Ärzte ausbilden? Oder dich zur Ruhe setzen?“ Greiner lächelte. „Nein, ehrlich gesagt nicht.“ „Weil du nichts anderes kannst.“ Greiner hatte das Gefühl, eine Ohrfeige kassiert zu haben. „Äh, was?“ Eigentlich hatte er eine scharfe Frage stellen wollen, nur irgendwo zwischen Gehirn und Mund musste ein Großteil der Schärfe und sämtliche Autorität gleich mit verloren gegangen sein. Angela erhob sich umständlich, stellte sich aufrecht vor den alten Preservisten und setzte einen gespielt lehrerhaften Blick auf, der jedoch sofort von ihr abfiel, als sie zu sprechen begann. „Du kannst nichts anderes. Du bist alt, du bist müde, du hast Schmerzen und du magst das, was deine Arbeit ausmacht, nicht mehr, nämlich Menschen. Du hörst nicht mehr richtig zu und bist unaufmerksam. Du willst mich mit deiner Waffe nicht verschrecken und legst sie weg, weil du glaubst, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Ich bin natürlich nicht gefährlich. Aber alleine dass du, ausgerechnet einer wie du, es dir erlaubst, zu glauben, es gäbe einen Ort, der sicher ist, sagt doch alles. Du weißt selbst genau, dass du schon längst hättest aufhören sollen mit dem, was du tust. Meine Diagnose: Du kannst nichts anderes.“ Greiner glotzte Angela dümmlich und unfähig zu sprechen an. Nicht einmal seine Emotionen hatten die Höflichkeit, sich chaotisch durch seine Eingeweide zu fressen. Alles was Greiner spürte war das Gefühl, vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein. Angela hingegen fuhr ungerührt fort. „Du musst sehr gut sein in dem, was du tust, sonst hätten sie einen alten und müden Mann wie dich nicht wieder auf die Straße gelassen. Ich zumindest habe noch nie einen Spitalier in deinem Alter gesehen, der auf einem der schwarzen Pferde reitet. Du weißt, dass du da draußen irgendwo sterben wirst, und das schon bald. Trotzdem, meine Diagnose bleibt: Du kannst nichts anderes.“ Ohne viel Federlesens oder Verabschiedung lief das Mädchen, mit der für Kinder ihres Alters üblichen Energie und Forschheit zurück in das Getreidefeld, aus dem es gekommen war. Greiner bekam es nicht mit…die Diagnose war gestellt. (Quelle: aus dem alten Degenesis-Forum) |